Welt des Digitalen Wissens

Matthias Müller-Prove in Design Made in Germany 8

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Why are we born? Why do we die? Why do we spend so much time in between wearing digital watches? – Douglas Adams, 1979

An der Frage nach Leben und Tod haben sich unzählige Philosophen und Theologen abgearbeitet; um die dritte Frage soll es in diesem Beitrag gehen, auch wenn inzwischen – mehr als dreißig Jahre nach Douglas Adams’ »Hitchhiker’s Guide to the Galaxy« – die digitalen Armbanduhren durch Smartphones ersetzt wurden. Armbanduhren beschränken sich auf die eine Funktion der Zeitangabe. Da Sir Ken Robinson aber einwerfen mag, „It tells the date as well!“ [TED 2010], und man sich an einige Exemplare erinnert, die auch eine Stoppuhr und einen Taschenrechner besaßen, lässt sich hier die Frühgeschichte der Smartphones beobachten. Wer oder was ist hier aber smart? Der mobile Computer, der unbeschränkte Möglichkeiten verheißt – oder der Nutzer, der sich davon einen unbeschränkten Zugang zum Wissen der Welt verspricht?

Es ist letztlich die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Die Erfindung der Dampfmaschine löste im 18. Jahrhundert die Industrialisierung aus. Seither konnte in den Fabriken immer mehr und günstiger produziert werden, und die Handwerker wurden zu Bedienern der Maschinen. Computer sind eine spezielle Form von Automaten, die nicht mit Hebeln und Motoren die Muskelkraft vervielfachen, sondern mit Chips und Bytes die geistigen und kommunikativen Fähigkeiten des Menschen potenzieren und erweitern können.

Computer sind darüber hinaus auch ein Medium, sogar ein universelles Medium, da durch die Software immer neue Eigenschaften und Funktionen angeboten werden und versucht wird, alle vorausgegangenen Medien nachzubilden. Dazu nur ein paar Beispiele: Die Schreibmaschine wurde durch Textverarbeitung auf dem Computer abgelöst. Das Tagebuch bildet die Vorlage für das Bloggen. Das Telefonsystem wurde zunächst in den Vermittlungsstellen digitalisiert und erfährt nun durch VoIP (Voice over Internet Protocol) und Videochat seine nächste Wandlung. Diavorträge wurden zu Slideshows, Fotoapparate zu Digicams und LPs zu MP3s. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Allen gemein ist aber, dass vormals analoge Medien durch die Digitalisierung ihren Charakter verändern und damit auch die Art und Weise, wie wir mit den neuen Medien umgehen.

Ihrerseits beeinflussen die digitalen Medien das Denken und damit den Wissenserwerb. Sie sind geradezu dafür prädestiniert, dass aus der Interaktion zwischen Menschen mit und mittels des Computers neue Erkenntnisse und Einsichten entstehen können.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Computers zeigt, dass dieses Leitbild schon recht früh formuliert wurde. So erschien 1945 im Atlantic Monthly der Artikel »As We May Think«, in dem Vannevar Bush das System Memex skizzierte. Memex war die Idee eines auf Mikrofilm basierenden Automaten, der einem Wissenschaftler bei der Lektüre von Fachartikeln unterstützen sollte. Aus heutiger Sicht liest sich der Text wie ein vorweggenommenes Gesamtkonzept für Adobe Reader, Google Books und Hypertext in einem – insbesondere da sich die Navigation an assoziative Gedankensprünge anlehnt, indem miteinander in Beziehung stehende Artikel mit einem gemeinsamen mnemonischen Code versehen würden. Voilà, die Urform des Tagging!

Mit der Einführung des Begriffes »Knowledge Worker« bezeichnete Peter Drucker 1959 explizit den Umgang mit Informationen als wichtigste Tätigkeit in modernen Unternehmen. Ein Jahr später bezog dann Joseph Licklider in »Man-Computer Symbiosis« erstmals eine systemische Position, indem er einem General auf dem Schlachtfeld zur schnellen Entscheidungsfindung einen Computer zur Seite stellen wollte. Und 1963 begann Douglas Engelbart am Stanford Research Institute sein fundamentales Forschungsprojekt »Augmenting Human Intellect« auf dessen Höhepunkt im Dezember 1968 der staunenden Fachöffentlichkeit NLS vorgestellt wurde. Maus, interaktives und kollaboratives Bearbeiten von Hypertexten am Bildschirm, E-Mail, und Videokonferenz waren radikale Neuerungen, die die Vision einer produktiven Interaktion zwischen Menschen und Computer in greifbare Nähe rückten. Eine Videosuche nach „Mother of all Demos“ führt zu vierundsiebzig atemberaubenden Minuten.

Die Weiterentwicklung hin zum PC fand dann in den 1970er Jahren am Forschungslabor Xerox PARC statt. Dort bestimmte Alan Kay die Agenda und propagierte in »A Personal Computer for Children of All Ages« den Paradigmenwechsel hin zum individuellen Umgang mit einem Computer. Die heute üblichen Desktop- und Laptop-Computer funktionieren noch immer nach dem gleichen Schema wie ihre Vorgänger am PARC: Desktop-Metapher mit Fenstern, Icons und Menüs bilden die Oberfläche, die mit der Maus oder einem Trackpad bedient werden. Allerdings sind die Anwendungen um ein vielfaches komplexer geworden. Durch die globale Vernetzung der Systeme mittels des Internet hat sich der Informationsaustausch über das World Wide Web ab Mitte der 1990er Jahre zum integraler Bestandteil der täglichen Arbeit entwickelt. Da scheint es überfällig, dass einige Interaktionsprinzipien überdacht und weiterentwickelt werden sollten.

An interface is about hiding complexity from the user. It’s about guiding a process, without cognitive understanding of what goes on beneath. Interface design is the art of enveloping the observer in an enticing, “try this” exploration with ever-new elements and designs as the tools to triumph in new territories. – Kai Krause, 1996

Has the violin a good human interface? It’s a great interface! It produces wonderful music! It is not an easy interface. Why should an interface be easy? In fact I never found one that was. – Ivan Sutherland, 2011

User Experience umfasst gemäß ISO 9241-210 alle Wahrnehmungen, Gefühle und Annahmen eines Nutzers, die mit der Nutzung oder geplanten Nutzung eines Produkts, Systems oder Services zusammen hängen [Übersetzung vom Autor]. Man kann folglich als Designer die User Experience nicht direkt gestalten, sondern lediglich beim Entwurf der Benutzungsoberfläche und des Funktionsumfangs darauf achten, dass der Anwender später eine positive User Experience erlebt.

Auch wenn wir es gerne anders hätten, der Homo Sapiens ist kein rein rationales Wesen. Zu komplex sind Gedanken und Vorstellungen, die einem Anwender bei der Nutzung eines Programms durch den Kopf gehen. Er versucht zwar ständig die Anzeigen vom Bildschirm in ein konsistentes mentales Modell einzuordnen. Aber Hektik und Zeitnot vereinfachen die Lage nicht. Vermeintlich klare Hinweise zur korrekten Nutzung werden überlesen oder falsch interpretiert, so dass sich Anwendungsfehler häufen. Das Fehlen einer Undo-Funktion schmerzt dann doppelt. Noch mehr Stress und Frust sind die Folge.

Das Gegenteil dieser negativen Erfahrungen, die uns alle tagtäglich begleiten, ist eine souveräne und selbstverständliche Nutzung der Anwendung; der Computer wird zum Werkzeug und führt die eingegebenen Kommandos zügig und korrekt aus. Die Handhabung des Computers sollte dem Anwender so vertraut sein, wie einem Musiker sein Instrument. Er muss nicht lange überlegen, wie er es zu bedienen hat und kann sich stattdessen gänzlich auf den Inhalt konzentrieren.

Nur ein Computer oder Smartphone mit einem Satz von Anwendungen, die den Nutzer bei seiner eigentlichen Tätigkeit nicht irritieren und damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, kann zu einem zuverlässigen Begleiter werden. Mehr noch: ein System, das man gerne benutzt – Stichwort »Joy of Use« –, führt zu einem entspannten Arbeiten und damit meist auch zu besseren Ergebnissen.

Damit dies gelingen kann, ist der Nutzungskontext von Anfang an in die Gestaltungsphase mit einzubeziehen. Der Designer muss verstehen, wie die Anwendungen genutzt werden sollen. Wer sind die Anwender? Welche verschiedenen Nutzerperspektiven gibt es? Was ist die Vorerfahrung des Anwenders und damit seine Erwartungshaltung? Welche Aufgaben sollen unterstützt werden? Welche sonstigen Tools werden eingesetzt? Für welche Geräte wird gestaltet? Welche Ein- und Ausgabe-Devices sind vorhanden und sind diese für den Nutzungskontext geeignet? All diese Fragen werden im User-Centered Design Prozess behandelt. Dabei ist es von zentraler Bedeutung zusammen mit den späteren Anwendern die Eigenschaften des Produktes zu definieren. Teils ergeben sich die Einsichten aus direkten Gesprächen und Interviews – zu einem erheblichen Anteil sind die wichtigen Parameter aber den Anwendern selbst nicht bewusst, da sie Fachleute in ihrer Domäne sind, jedoch keine Experten im Bereich der Anforderungsermittlung.

Daher sei angeraten neben dieser gesprächsorientierten Phase zusätzlich beobachtende Methoden einzusetzen, um Aspekte des Anwendungskontextes noch besser zu verstehen. Site-Visits, Job-Shadowing und iteratives Testen von Designkonzepten und Prototypen sind der Weg zu benutzbarer Software.

The computer revolution hasn’t happened yet. – Alan Kay, 1997, 1998, 2000, 2002, 2004

Zwischen der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts und der Herstellung von handlichen Büchern durch den Italiener Aldus Manutius vergingen gut hundert Jahre. Durch Manutius wurden Bücher erschwinglich und transportabel, sodass sie sogar in Satteltaschen auf Reisen mitgeführt werden konnten. Erst beide Entwicklungen zusammen lösten eine kulturelle Umwälzung aus, in der zahlreiche Menschen das Lesen und Schreiben lernten. Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche ist ein frühes Beispiel dafür, dass nun auch der Inhalt in einer Form angeboten werden konnte, der vorher nur von wenigen lateinsprechenden Geistlichen und Gelehrten verstanden wurde. Wissen wurde demokratisiert, indem es vielen Menschen zugänglich wurde. Aufklärung und Französische Revolution zum ausgehenden 18. Jahrhundert waren die Folge.

Beim noch jungen Informations- und Kommunikationszeitalter ist die Entwicklung noch viel näher beim Techniker „Gutenberg“; und es ist höchstens in Anfängen zu erahnen, welche Auswirkungen das neue Medium noch haben wird. Kaum dreißig Jahre sind seit Einführung des Apple Macintosh vergangen, der mittels einer grafischen Oberfläche den Zugang zu Computern auch Nichttechnikern ermöglichte. Unmittelbare Folge war die Desktop-Publishing-Revolution. In den 1990er Jahren folgte dann mit dem World Wide Web auch ein grafische Zugang zum Internet. Datenautobahn und „Information at your fingertips“, Online Shopping und Suchmaschinen prägen das junge Medium. Das derzeit propagierte mobile Internet führt uns wieder zu den eingangs erwähnten Smartphones. In vielen Teilen der Erde bedeuteten die dafür notwendigen drahtlosen Verbindungen überhaupt den Erstzugang zum weltweiten digitalen Informations- und Kommunikationsnetz.

Die digitale Revolution besteht aus drei Aspekten: a) die technische Infrastruktur der Netze, b) das Design der Software und die Gestaltung der Inhalte, und c) aus den Inhalten selbst. Dabei kommt den Software-Designern die Aufgabe und Verantwortung zu, einerseits die Anwendungen so verständlich zu gestalten, dass sie gut bedienbar sind, und andererseits die Angebote im Netz so zu strukturieren, dass die Informationen vom Nutzer sinnvoll aufgenommen werden können. In diesem Sinne war der venezianische Buchdruckmeister Aldus Manutius ein früher Vertreter der Zunft der User-Centered Designer.

Genau wie bei der Gutenberg’schen Medienrevolution muss der Umgang mit den digitalen Medien neu gelernt werden, um die Möglichkeiten sinnvoll einsetzen zu können. Entertainment und Micro-News sollten dabei nicht den Blick für die wesentlichen Inhalte verstellen. Sonst besteht die Gefahr in der Datenflut unterzugehen; oder, wie Neil Postman noch zu Hochzeiten des Massenmediums Fernsehens formulierte, „we are overnewsed but underinformed“.

Informationen werden im Computer durch Nullen und Einsen repräsentiert. Aber es sind die Menschen vor den Bildschirmen, die die Informationen bewerten und strukturieren, und die erstmals in der Geschichte ihrerseits die Möglichkeit haben, ihre Meinungen und Einsichten in Blogs oder Sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Durch deren chaotisch-kooperatives Zusammenwirken wachsen beispielsweise auch Social-Bookmarking Sites oder Portale wie Wikipedia. Gefragt sind Tools, die solche flexiblen Kooperationen ermöglichen, um gemeinsam zu Diskutieren und die digitale Informationsflut zu bändigen. Angesichts der globalen Probleme der Menschheit hält Doug Engelbart eine Co-Evolution des Mensch-Computer Systems für notwendiger denn je. Er versteht darunter eine wechselseitige Fortentwicklung von Mensch und Technik, die die Kompetenzen beider Seiten verstärkt. Im Laufe der Entwicklung profitiert der Mensch zunehmend, da er lernt den Computer als persönliches Ausdrucksmedium seiner Kreativität einzusetzen. Die weltweite Vernetzung der Systeme verspricht einen kollaborativen globaler Diskurs.

Ob der gegenwärtige Stand der sozialen Netzwerke bei der Lösung der drängen Fragen der Welt nützlich sein werden, kann allerdings bezweifelt werden. Komplexe Fragestellungen oder gar deren Beantwortung, passen nicht in 140 Zeichen. Die Activity-Streams von Twitter, Facebook, Google+, Xing und Co. bilden nur das digitale Rauschen, aus dem vielleicht die Essenz für neues Wissen gefiltert werden kann. Wie ein guter Handwerker müssen wir dafür lernen, mit den Werkzeugen, die der Computer und das Internet anbieten, umzugehen; oder wir müssen uns besser geeignete Tools entwickeln.

Die Antwort auf Douglas Adams’ Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ lautet bekanntermaßen »42«. Das sei ein Menetekel für eine sorgfältige Formulierung der Frage, ehe man den Computer einsetzt. Da Alan Kay zuletzt 2004 einen Vortrag unter dem Titel »The computer revolution hasn’t happened yet« gehalten hat und die Auswirkungen auf das politische und gesellschaftliche Leben schon deutlich wahrzunehmen sind, darf man behaupten, dass wir uns derzeit mitten in der digitalen Revolution befinden.

Über den Autor

Matthias Müller-Prove (Dipl.-Inform.) ist bei Oracle in Hamburg als User Experience Principal und Software Development Manager in den Bereichen Desktop Virtualisierung und Enterprise 2.0 tätig. Für seine Diplomarbeit "Vision and Reality of Hypertext and Graphical User Interfaces" erhielt er 2005 den Wolfgang-von-Kempelen-Preis für Informatik-Geschichte.
Matthias ist Gründungsmitglied von uxHH.de und der Local Group der Interaction Design Association IxDA in Hamburg. Auf Xing moderiert er u.a. das User Experience Forum.

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