User Experience Newsletter #4, Februar 2005
Liebes Forum,
zur Februar-Ausgabe des User Experience Newsletters erlaube ich mir ein paar Gedanken zum Zustand unserer Computer-Desktop-Systeme. Ich bin nämlich der Meinung, dass es hier offensichtliche Parallelen zu Matrjoschkas gibt, den russischen Holzpuppen, in denen eine Holzpuppe steckt, in der eine weitere Holzpuppe steckt, in der eine Holzpuppe…
Zurück zum Computer. Die Desktop-Metapher ist hinlänglich bekannt, jedoch etwas in die Jahre gekommen und nicht mehr so dominierend, wie noch vor 15 Jahren. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht mehr so notwendig, um Einsteigern bei den ersten Schritten eine vertraute Umgebung vorzuspielen? Der Computer ist ein Alltagsgegenstand geworden, dessen Bedienung nicht mehr sonderlich erklärungswürdig erscheint. Fenster, Icons, Maus, Menü, Dateien und Programme bilden Umgebungen, die sich auf den verschiedenen Plattformen nur noch marginal voneinander unterscheiden.
Vor gut 10 Jahren kam dann ein weiteres Programm dazu. Fortan diente der Web-Browser zum Laden und Anzeigen nicht lokal vorliegender Dokumente. Und auch die Interaktionsformen mit Maus und Fenstern wurden – nennen wir es mal freundlich – erweitert. Aus dem Doppelklick auf Dokument-Icons wurde der Einfachklick auf Hyperlinks; aus einem Fenster, das für den Benutzer schon fast identisch war mit dem Dokument (entsprechend der Desktop-Metapher), wurde ein Wechselrahmen, in dem immer neue Seiten angezeigt werden. Das Browser-Fenster wurde obendrein noch mit einer Wartefunktion ausgestattet, die anzeigt, dass noch Daten durch den Draht gepresst werden. Warum diese Eigenart aber inzwischen auch Fenster betrifft, die lediglich lokale Daten anzeigen, entzieht sich leider meinem Verständnis. Ein Fenster, das lange vor seinem Inhalt auf den Bildschirm gepinselt wird, zerstört nachhaltig den Einduck der Desktop-Metapher, dass nämlich Fenster und Dokument oder auch Fenster und Ordner identisch sind.
Was wir heute haben, ist eine krude Mischung aus Desktop und Web. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Desktop-WIMP-Welt mit der Web-Welt in Einklang zu bringen. Und so unterminieren Interaktionsformen des Web die Desktop-Welt. Dazu ein Beispiel: Der Papierkorb war eine fehlertolerante Methode, um nicht mehr benötigte Dokument zu löschen. Fehlertolerant, da es dem Anwender möglich war, Dokumente wieder aus ihm herauszuholen. Im Web hingegen wird das Papierkorb-Icon mit der Bedeutung Löschen verwendet. Sofort Löschen. Ohne die Chance die Aktion wieder rückgängig zu machen. Der Anwender pendelt also zwischen den Konventionen der einen und anderen Welt hin und her, mit der ständigen Gefahr die beiden Welten zu verwechseln.
… in der eine Holzpuppe steckt …
Mitten im Browser tut sich seit einiger Zeit eine nächste Ebene auf. Web-Designer besetzen ein Rechteck einer Web-Seite und machen dort, was sie wollen. Zum Beispiel mit Flash. Viel zu oft entstehen dabei Seiten, die zum Leidwesen der Besucher wiederum Icons, Scrollbars und sonstige Interaktionselemente teils ungewohnt darstellen, teils neu interpretieren. Muss es wirklich noch eine weitere Komplexitätsstufe geben, die nicht dazu geeignet ist, das Web im besonderen und den Umgang mit dem Computer im allgemeinen zu vereinfachen?
Was ist nun unsere Rolle als User Experience Experte? Schmirgeln wir nur hier und da etwas an den Holzpuppen herum, damit sich die Benutzer an den gefährlich herausragenden Splittern nicht verletzen? Oder sollte man nicht endlich aufhören mit Puppen zu spielen und das Potential ausloten, das in einer intensiven Interaktion zwischen Mensch und Computer liegt?
Matthias Müller-Prove